Aufstoßen von Denkräumen

Kultur hat das Potential, die Idee Europa am Leben zu halten. Demokratische Gesellschaften sollten sich mehr von dieser Kultur leisten und sie mit derselben Vehemenz schützen, wie sie es bei Künstlern und Journalisten tun, die in Diktaturen angegriffen werden.

Wir kommen aus einer Phase, in der sich die Kulturschaffenden hatten zurückziehen wollen: Wer wollte schon die Rolle von Günter Grass einnehmen? Kunst und Kultur sollte sauber entpolitisiert sein, nur die Erzählung, eine Gegenwelt bieten, sich mit den Niederungen des normalen Lebens oder gar des schmutzigen Politikbetriebs nicht zu sehr befassen. Sie dürfe nicht Partei ergreifen, sonst sei sie keine gute Kunst. Die letzten Jahre haben gezeigt: Die Kultur kann zwar Gegenwelt sein, aber nur in dieser Welt. Oder um es mit Woody Allen zu sagen: „Ich hasse die Wirklichkeit, aber sie ist der einzige Ort, wo man ein gutes Steak bekommt!“

Die Kulturschaffenden sind zurück, ihren Platz in der Gesellschaft zu verteidigen. Denn eines machen autoritäre Herrscher deutlich: Kultur und Kunst, wie wir sie verstehen und schaffen, sind ohne Freiheit und die universellen Rechte des Individuums nicht möglich. Die Kultur ist keine Schutzzone, in der Kulturschaffende vor der Welt um sie herum verschont werden könnten. Wenn weltweit Autoren, Künstler und Journalisten für ihre Arbeit mit ihrer Freiheit bezahlen müssen, dann wird klar: Eine unfreie Gesellschaft wird kein freies Theater dulden. Sie wird keinen „unsittlichen“ Roman dulden.

Die Kultur ist keine Schutzzone, in der Kulturschaffende vor der Welt um sie herum verschont werden könnten.

Eine unfreie Gesellschaft wird keine freie Meinungsäußerung dulden. Und es wird bei der Einschränkung der Freiheit nicht nur um Meinungsäußerungen gehen, es wird um die Freiheit gehen, sich auszudrücken.

Die Ereignisse der letzten Jahre, die Idee, dass dieses Europa zerbrechlich ist, hat viele Kulturschaffende daran erinnert, dass sie nicht in einem Schutzraum leben, sondern dass sie mit der Gesellschaft um sich herum verbunden sind, dass ihre Leben nicht im Konzert- oder Literaturhaus enden. Kulturschaffende sind wieder verstärkt Bürgerinnen und Bürger. Ein Satz schreibt sich anders, wenn man weiß, dass in einem anderen Land, nicht weit entfernt, eine Autorin wie die türkische Schriftstellerin und Physikerin Asli Erdoğan für denselben Vorgang mit ihrer Freiheit bezahlt.

Wer Freiheit als Wert verteidigt, der verteidigt Europa

Liberale Werte stehen weltweit unter Beschuss und Kulturschaffende von heute werden daran erinnert, dass es Zeiten gab, in denen Bücher verbrannt wurden, Filme verboten wurden und gerade die Künstler ins Exil mussten, wenn sie überleben wollten.

Kultur hält Europa zusammen. Wer in Europa die Freiheit als Wert verteidigt, der verteidigt Europa. Und gleichzeitig, weil die Zeiten so dringlich sind, müssen wir achtgeben, dass die Kultur nicht zur Geisel wird, nicht in Haft genommen wird, das zu leisten, was politische Debatten zu leisten haben, doch mit künstlerischen Mitteln. Kunst muss frei bleiben von einem Auftrag. Nur in dieser Freiheit kann sie ein Kind der Hoffnung bleiben. Freiheit – das kann auch der Atemzug sein, den ein Gedicht auslöst, weil es in einem einzigen Vers unserer Verletzbarkeit ein Zuhause bietet. Ein Wortzuhause jenseits der Staatsbürgerschaft. Die Meinungsfreiheit sowie die Freiheit sich künstlerisch auszudrücken, sind Grundsäulen der demokratischen Grundordnung.

Der Kulturschaffende ist Bürger. Er mag in seinem Verständnis auch Weltbürger sein, doch dieses großartige Konzept ist eine Utopie, sie ist vielleicht eine Chance für morgen. Heute hingegen sehen wir: Wer den falschen Pass hat, kann im Kopf Weltbürger sein, doch er wird mit diesem Kopf auf den Schultern ins Gefängnis gesteckt, wie es etwa dem deutschtürkischen Journalist Deniz Yücel widerfahren ist.

Die Idee der „Weltbürger“ darf die Einschränkungen der vielen zugunsten der Privilegien der wenigen nicht beschönigen. Einer, der sich Weltbürger nennt, heute schon, darf seine Privilegien nicht verschweigen. Wer Freiheit als solche erfahren hat, der wird auch die Verantwortung spüren, diese zu verteidigen. In den heutigen Zeiten leben viele im Dilemma, dass diese Freiheit genutzt wird, um antidemokratische Thesen zu verfechten.

Ein Kampf gegen Minderheiten statt ein Kampf um Minderheitenrechte, wie sie unser Grundgesetz vorsieht. Auch diese Meinungen werden von Bürgern vorgetragen. Um Voltaire zu zitieren: „Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, welches man ihm nicht nehmen könnte, ohne die widerwärtigste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht kommt uns von Grund auf zu; und es wäre abscheulich, dass jene, bei denen die Souveränität liegt, ihre Meinung nicht schriftlich sagen dürften.“

Das gilt auch für jene, deren Meinung derzeit als europafeindlich oder nationalistisch gesehen wird. Es ist an uns, diese Meinung anzuhören, ihr Platz zu geben, doch für jenes Europa zu kämpfen, das Vielfalt in Einheit leben kann. Es ist an uns, für Bedingungen des Zusammenlebens zu sorgen, die unsere Argumente überzeugend machen. Ein abschottender Elitismus ist ebenso wenig die Antwort auf diese Fragen wie die Elitenfeindlichkeit, die um sich greift.

Die Hoffnung, die Europa geben kann, ist seine historische Erfahrung. Der wertvolle Schatz an historischem Wissen, Scheitern und Gelingen – all das hat die europäische Geschichte zu bieten. Es ist diese Geschichte, die uns zusammenhält. Es muss ein für alle abrufbares Narrativ geben, das uns von dieser europäischen Identität erzählt, das jedem Einzelnen dieses Wissen zugänglich macht. Ich möchte Ihnen hier ein wichtiges Buch ans Herz legen: „Europe – The Struggle for Sumpremacy“ von dem irischen Historiker Brendan Simms, der an der Universität Cambridge lehrt. Ein Buch, das die Geschichte Europas von 1453 bis heute erzählt. Es ist eine Geschichte jahrhundertelanger Kämpfe um Vormacht. Zahllose Flottenkriege, Königreiche, Glaubenskriege, Fürstentümer, eine Geschichte der Allianzen und Bündnisse.

Wenn die Kulturschaffenden etwas tun können, dann sicher auch, dieses Wissen wieder lebendig zu machen: Was hat es bedeutet, in Unfrieden zu leben? Wie viele Kriege gab es und wie wurden sie geführt?

Alle diese Jahrhunderte sind kollektive Erfahrung – doch leider nicht immer kollektives Wissen. Wenn die Kulturschaffenden etwas tun können, dann sicher auch, dieses Wissen wieder lebendig zu machen: Was hat es bedeutet, in Unfrieden zu leben? Wie viele Kriege gab es und wie wurden sie geführt? Wenn Politiker nun meinen, es wachse eine Generation nach, die sich mehr für freie Roaming-Gebühren interessiert als für das europäische Friedensprojekt, dann kann man nicht als Antwort die Gebührenfreiheit propagieren, sondern muss bei der Bildung ansetzen.

Dominanz und Hochmut

In Europa wurde nach 1500 das Konzept einer Weltordnung definiert, beschlossen und umgesetzt. Eine Weltordnung, die es den Europäern möglich machte, die Welt zu erobern und auszubeuten. Es gehört auch zur Kultur Europas, sich des eigenen Hochmuts bewusst zu sein, den wir Europäer über Jahrhunderte an den Tag gelegt haben. Es gehört zur europäischen Identität, zu wissen, welche Kulturen, Ethnien und Gebiete Herrscher und welche Diener waren. Ab dem 15. Jahrhundert dominierte Europa die Welt. Europa war der Gravitationsschwerpunkt der Kolonialisierung. Und schon damals war Europa kreativ, sich moralisch freizukaufen.

In Valladolid trafen sich 1550 bis 1551 Theologen, die Karl der V. zusammengerufen hatte, zum Disput von Valladolid. Schon damals ging es darum, wer die Barbaren seien, und wer das überlegene Volk. Theologisch argumentierte Grundlagen für die Sklaverei und Ausbeutung der amerikanischen Ureinwohner. Historische Verantwortung ist ein Wert, den Europa groß zu schreiben hat – schon lange vor den letzten Weltkriegen.

Auch Bildung und Demokratisierung sind europäische Werte. Wenn wir heute von Europa und Kultur reden, dann darf die Erfindung des modernen Buchdrucks nicht fehlen. Es ist Teil der europäischen Kultur, dass der Zugang zu Bildung demokratisiert wurde. Das Heraustreten aus dem Mittelalter hatte zu tun mit dem Heraustreten aus einem elitären Kreis von Klerikern und Herrschern, die Wissen für sich behielten. Die Entdeckungen der Weltreisenden wurden durch den Buchdruck immer mehr Menschen zugänglich gemacht. Man entdeckte die Antike neu, die eigenen Wurzeln, und räumte plötzlich der Vernunft mehr Platz ein, stellte die althergebrachten Institutionen infrage.

Neue Denkansätze

Martin Luther schlug schließlich seine 95 Thesen nicht nur an die Tür der Schlosskirche Wittenberg, er schlug damit für ganz Europa die Tür zu neuen Denkräumen auf.  Mit diesem neuen Denken erhielt das Individuum einen neuen Ort in der Weltordnung: Der Mensch konnte direkt mit Gott sprechen. Die Aufwertung des Einzelnen gegenüber der Institution – und das Gewissen des Einzelnen standen plötzlich im Mittelpunkt.

Auch dies ist die Arbeit von Kulturschaffenden: neue Denkräume eröffnen. Was auf Luthers Thesen jedoch folgte, waren Kriege. Auch das ist europäische Kultur. Neue Ordnungen gehen mit Kriegen einher. Nur wer sich diese Verläufe und immer wiederkehrenden Phänomene der Geschichte vergegenwärtigt, wird den Wert einer Europäischen Union als Friedensprojekt zu würdigen wissen.

Die Geschichte Europas ist der Kampf um den Fortschritt, die Brillanz, mit der er verfolgt wurde und es sind die Schattenseiten. Diese Erfahrungen zu bergen, sie an die nächsten Generationen von Europäern weiterzugeben, als kritisch durchdachte und nicht als Mythen beschwörende Inhalte, das ist eine Chance der Kulturschaffenden und ihrer Institutionen.

Europäisches Mosaik

Dieses Europa ist ein Mosaik, ein Puzzle aus autonomen Provinzen, Unabhängigkeitsbestrebungen und immer wechselnden Bündnissen. Nur wer diese Vielfalt versteht, kann Europa verstehen. Diese Vielfalt war immer Herausforderung, doch sie war auch der Grund für die rasante Entwicklung dieses Kontinents. Europa ist eine Aneinanderreihung außergewöhnlicher Politikentwürfe, die stets auf Balance ausgerichtet waren; eine Aneinanderreihung von gescheiterten Reichen, von denen das für unsere heutige Gesellschaftsordnung entscheidende der Zweite Weltkrieg und die Folgen des Dritten Reiches sind.

Die gesellschaftliche Grundlage, der Artikel eins des deutschen Grundgesetztes, ist entstanden, weil wir uns einer Sache nicht mehr sicher sein konnten: Die Würde des Menschen sei unantastbar. Wir leben auf dieser schriftlich fixierten Grundlage, weil wir uns dessen bewusst sind, dass Humanität verloren gehen kann. Und erkämpft werden muss.

Wenn man Historiker und Diplomaten erzählen hört, wird schnell deutlich, dass Europa innerhalb seiner Reiche immer zahlreiche Prinzen, Machtträger und unterschiedliche Provinzen unter einem Hut versammeln musste und es in allen Zeiten ungewöhnliche Versuche gab, Zustimmung und Mehrheiten zu suchen. Der diskursive Charakter Europas ist alt. Während die chinesischen Imperatoren beispielsweise einen absoluten Anspruch über ihre Herrschaftsgebiete hatten, mussten die europäischen immer mit der Idee der balancierten Herrschaft führen. Man war zwar Herrscher, aber die einzelnen Provinzen mussten ins Boot geholt werden, wie das heute genannt wird. Auch daran erinnern wir zu wenig, dass dieses Europa immer – mit den brutalen oder weniger brutalen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen – ein Europa des Aushandelns war. Das letzte Mal, dass Europa nicht diesen Weg gegangen ist, ein totalitärer Herrscher es mit Krieg überzog, legte den Kontinent in Schutt und Asche. Nach dem Zweiten Weltkrieg, unter anderem durch den Schrecken des Holocaust, wurde ein Friedensprojekt ins Leben gerufen, das für dieses Aushandeln diplomatische und bürokratische Wege sucht.

Dieses Friedensprojekt sollte Europa im Rahmen der Europäischen Union ein Format für dieses Aushandeln bieten – zunächst auf wirtschaftlicher Ebene. Dieses Format hat sich leider deformiert: Statt mit den Jahren mehr kulturellen Zusammenhalt zu fördern, hat es sich weiterhin auf mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit verlassen. Bürger und Experten sehen ein Demokratiedefizit in dieser Europäischen Union, Misstrauen ist entstanden, vor allem im Hinblick darauf, wer die Nutznießer dieses Projekts sind. Diese Europäische Union, wie sie jetzt funktioniert, wird als ein Grund dafür gesehen, weshalb die europäische Einheit und Verständigung in Gefahr ist.

Die Geschichte Europas ist der Kampf um den Fortschritt, die Brillanz, mit der er verfolgt wurde und es sind die Schattenseiten. Diese Erfahrungen zu bergen, sie an die nächsten Generationen von Europäern weiterzugeben, als kritisch durchdachte und nicht als Mythen beschwörende Inhalte, das ist eine Chance der Kulturschaffenden und ihrer Institutionen.

Es ist die Aufgabe der Bürger Europas, daran zu erinnern, dass die Europäische Union dem Frieden auf diesem Kontinent zu dienen hat und nicht Partikularinteressen. Die Europäische Union darf nicht den Eindruck erwecken, ein Selbstbedienungsladen für bürokratische und neo-liberale Kräfte zu sein; sie darf nicht das Sprungbrett für die Rechtpopulisten sein, sie ist auch nicht die Festungsbeauftragte Europas, die Minderheitenrechte für die Nationalstaaten aushebelt. Im Gegenteil: sie müsste die Plattform sein, die es den einzelnen Ländern ermöglicht, die Werte Europas gemeinsam umzusetzen und zu verteidigen.

Ein existenzieller Wert für Europa ist auch die Kraft der Ideen, die Kraft der Worte, die Kraft der Aufklärung. Ein beispielhafter Wert Europa ist das Erinnern und Aufarbeiten von Fehlern aus der Vergangenheit. Die Werte Europas sind die Summe des Gelernten aus den historischen Fehlern, die dieses Europa gemacht hat. Wer diese Lektionen nicht lernen will, der bringt Europa zurück und nicht nach vorne. Es liegt an uns, ob wir, wie es heißt, die Geschichte wiederholen, oder, ob wir sie nutzen, um aus ihr zu lernen.

Die Macht der Ideen

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – das sind Ideen, die Kulturschaffende in die Gesellschaft getragen haben. Es sind Ideen, die den Menschen an einen neuen Platz in der Weltordnung gesetzt haben, den Bürger zum Souverän machten. Wir sind wieder in einer Zeit angekommen, in der Kultur sich nicht verstecken kann – denn sie wird gefunden und böse erwachen, wenn sie zu lange schläft.

Es wird viel darüber diskutiert, was Politik kann, was die Medien können. Doch was können die Kulturschaffenden? Ich möchte diese Frage insofern erweitern, als ich zurückfrage, wer Kulturschaffende sind. Kulturschaffende sind Bürger – und Bürger sind Kulturschaffende. Wir alle schaffen Kultur. Es gibt niemanden, der mit seinem alltäglichen, privaten Tun oder Wirken im öffentlichen Raum nicht auch ein Kulturschaffender wäre. Eltern schaffen Kultur, wenn sie ihren Kindern Werte vorleben oder nahebringen.

Ein Politiker oder eine Politikerin prägt mit Sprache und Agenda die politische Kultur. Medien schaffen mit ihrer Berichterstattung eine Debattenkultur. Medien formen jedoch auch eine Aufmerksamkeitskultur, das heißt, sie sind maßgeblich an der Frage beteiligt, was Bürgerinnen und Bürger beschäftigt, was sie für relevant halten und was nicht. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass sie daran beteiligt sind, was Bürgerinnen und Bürger für die Welt halten – dabei zeigen sie immer einen Ausschnitt. Medienkultur, das ist immer auch das Auswählen und Präsentieren von Wirklichkeit – also geht es auch um die Kultur der Verantwortung.

Die Risiken der Aufmerksamkeitsökonomie

Die Verantwortung ist ein Wert, der es schwer hat in Zeiten von Quoten und Zahlen, die dem Profit dienen sollen. In einer Welt der ökonomischen Superlative, in der vermeintlich nur das Maximale gewinnt. Wenn Medien und Politik sich addieren und Polarisierung zum Gegenstand ihrer Kultur machen, dann schwappt diese Polarisierung auf die Bevölkerung über. Medien bilden nicht nur ab, sie sind Akteure. Es war Donald Trump, der sagte, er hätte diese Wahl ohne die US-Medien nie gewonnen, weil ihm die Mittel gefehlt hätten, so viel Werbung für seine Agenda zu machen, wie ihm durch die Aufmerksamkeit der Medien einfach zuteilwurde. Er hat trotz seiner frauen- und menschenverachtenden Rhetorik gewonnen, weil Aufmerksamkeit ein Wert an sich geworden ist.

Wer so viele Blicke und Klicks auf sich ziehen kann, der gewinnt. Des Kaisers neue Kleider ist ein Märchen, das in der heutigen Zeit so nicht mehr funktionieren würde. Wenn heute ein Kaiser nackt durch die Straße ginge und das Kind sagte: Der Kaiser ist ja nackt – würde man sagen: Na und, es ist der Kaiser, schließlich sehen ja alle hin. Kultur und kulturelle Bildung kann gegen diese billige Aufmerksamkeitsökonomie angehen. Diese grelle Aufmerksamkeitsmaschinerie ist auch das Werkzeug der rechten Kräfte. Der rasante Aufstieg der AfD ist nur aufgrund der Aufmerksamkeit erklärbar, die ihr zuteilwurde. Die Kultur hat auch hier den passenden Satz hervorgebracht: „Die Geister die ich rief, werd‘ ich nicht los!“

Neues trojanisches Pferd

Wenn die Kultur im klassischen Sinn, die Kulturschaffenden also, etwas Wertvolles einbringen können, dann die Erinnerung an eine Gesellschaft, in der das Ringen um die Aufmerksamkeit und die Gewinnermittlung nicht der Mittelpunkt des Gemeinwesens waren. Wenn die Kultur etwas kann, dann die Idee Europa plastisch zu machen, die Ideen am Leben zu halten. Doch Kultur wäre nicht Kultur, wenn sie nur konservieren würde. Kultur ist auch das Wagnis, die Suche nach dem Unbekannten, das Riskieren.

Nach dem Dunkel des 20. Jahrhunderts hat dieser Kontinent nach neuen Mitteln der Politik gesucht. Man wollte die Kriege hinter sich lassen, die Kämpfe. Gleichwohl ist der Mythos des Kampfes um Bürgerrechte und Demokratisierung ein zentraler Bestandteil der Geschichte Europas. Diesen Mythos haben viele den rechten Kräften überlassen – die europäische Geschichte darf man jedoch nicht jenen überlassen, die in einem schein-demokratischen trojanischen Pferd in die Parlamente einziehen und von dort aus die Säulen dieser Demokratie einreißen möchten.

Wenn die Kultur im klassischen Sinn, die Kulturschaffenden also, etwas Wertvolles einbringen können, dann die Erinnerung an eine Gesellschaft, in der das Ringen um die Aufmerksamkeit und die Gewinnermittlung nicht der Mittelpunkt des Gemeinwesens waren.

Europa ist die Wiege der Demokratie und die Demokratie das Schutzschild des Individuums und seiner Freiheiten. Eine Demokratie ist nur so stark wie sie ihre Schwächsten zu schützen vermag. Das gilt für den Umgang mit Einzelnen, für den Umgang mit den europäischen Nationen und für das Auftreten Europas in der Welt. Demokratie ist dann am stärksten, wenn dieses Rechtsbewusstsein ins Gefühl der Demokraten übergegangen ist, wenn es von so vielen Menschen wie möglich verinnerlicht wird – und nicht nur zitiert. Verinnerlicht wird es durch die kulturelle Erfahrung, die das Zusammenleben bietet. Der aufgeklärte Humanismus ist das kulturelle Erbe Europas, aufgeklärt gerade über die eigenen Schatten, um zu lernen, wie sich auch aus der Dunkelheit Licht in die Welt tragen lässt.

Über die Autorin
Portrait von Jagoda Marinić
Jagoda Marinić
Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin

Jagoda Marinić ist eine deutsch-kroatische Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin. Sie ist Kolumnistin bei der „Süddeutschen Zeitung“, der „taz“, bei der „Deutschen Welle“ und der „New York Times“. Jagoda Marinic ist Gründungsdirektorin des Interkulturellen Zentrums Heidelberg. Gemeinsam mit weiteren Aktivist:innen hat sie 2015 die Initiative „Demokratie Plus“ ins Leben gerufen. Diese kämpft gegen das wachsende Misstrauen der Bürger in die Parteien und will zum Einmischen ermutigen.

Bücher (Auswahl):

  • Sheroes: Neue Held*innen braucht das Land. S. Fischer, Frankfurt/M. 2019
  • Made in Germany: Was ist deutsch in Deutschland? Hoffmann und Campe, Hamburg 2016
  • Restaurant Dalmatia: Roman. Atlantik, Hamburg 2013

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.